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Bussi-Bussi!

Warum nur, Helmut, warum hast du uns das bloß angetan? Warum hast du sie nicht unter sich gelassen? Sie würden vermutlich heute noch nur zu finden sein in den Szenekneipen entlang der Luxusmeilen der bayerischen Hauptstadt. Aber nein, du musst sie uns unbedingt vorführen, uns all ihre affektierten Eitelkeiten ausbreiten, uns eine Gebrauchsanweisung in die Hand drücken, wie auch wir so sein können, wie der Klatschreporter Baby Schimmerlos in "Kir Royal" oder "Monaco Franze", der ewige Stenz in der gleichnamigen Serie. Sie und ihresgleichen zu allem Überfluss auch noch chartplatziert besungen durch die Spider Murphy Gang in ihrem Lied "Schickeria".

Für mich steht der Übeltäter fest. Beschlossen und verkündet: es ist der Helmut Dietl.

Ohne seine beiden imaginären Protagonisten und ihre Spezl aus der Münchner Schickeria wäre es nie zu der epidemischen Ausbreitung des Bussi-Bussi-Virus in all seinen verschiedenen Abarten und Härtegraden gekommen. Doch seit Jahren hat die Seuche alle gesellschaftlichen Kreise und Schichten erfasst und durchdrungen. Keine Aussicht auf einen Impfstoff oder gar ein Heilmittel.

So ist’s mein täglicher Verdruss, 
das ungewollte Muss zum Kuss.

Was war das früher doch klar und einfach. Männer gaben sich die Hand, Frauen auch. Nur in den seltensten Fällen und nur bei besonderen Anlässen gaben Männer Frauen vielleicht noch einen Handkuss. Das war’s. Leicht zu behalten. Fehleranfälligkeit nahe Null.

Eigentlich heißt es doch heute "never change a running System". Warum hat man dieses so probate System der Begrüßung nicht einfach weiter 'runnen' lassen? Nein, man hat es ersetzt durch ein kompliziertes, kaum zu durchschauendes, situationssensitives und weitgehend regelfreies Geflecht von Verhaltensusancen, die jeder für sich etwas anders interpretiert und anwendet. Das ist ein bisschen so, als würde jede Stadt und Gemeinde ihre eigenen Verkehrsregeln aufstellen und für ihre Einwohner aber auch außerhalb für gültig erklären.

Selbst - und das ist das schlimmste für mich - unter Männern kommt man mit dem Klassiker, dem guten alten Händedruck, nicht mehr hin. Auch hier begegnet man sich inzwischen auf vermintem Gelände. Während sich damals nur die Staatsoberhäupter sozialistischer Staaten um den Hals fielen, wird sich heute überall in verschiedenen Varianten und Intensitäten umarmt und gedrückt. Die Köpfe werden zusammengesteckt - einmal oder zweimal - zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite, um nur das am häufigsten anzutreffende zu nennen.

Es gleicht heute schon fast dem geworfenen Fehdehandschuh, wenn man sich nicht bei der Begrüßung in die Arme fällt und abknutscht, als würde man seinem Bruder wieder begegnen, den man bei einem Flugzeugabsturz verloren geglaubte. Mit einem schlichten Händedruck wird man dann schon mal gefragt, "hab’ ich dir was getan?".

Adolph Freiherr von Knigge hat der Menschheit mit seinem erstmals 1788 erschienen Werk "Über den Umgang mit Menschen" einen unschätzbaren Dienst erwiesen, als er die sich überwiegend aus dem Hochadel herausgebildeten Üblichkeiten im gesellschaftlichen Umgang in seinem Regelwerk normierte, sodass ein jeder wusste, wie man sich verhalten muss, um nicht unangenehm aufzufallen. Zu den knigge'schen Verhaltensregeln gibt es freilich seit je her eine große Kontroverse. Die einen empfinden sie als bevormundend, einengend und überkandidelt; sie werden eher als überflüssig abgelehnt. Den anderen geben sie Selbstsicherheit und das gute Gefühl, dem anderen im gleichen Regelkontext zu begegnen, der beiden entspannt ein sicheres Auftreten und Verhalten ohne Missverständnisse ermöglicht.

Ich persönlich verorte mich klar in letzterer Gruppe, die heute in Sachen Begrüßung jeder Orientierung beraubt ist. Es gibt nichts mehr, was eindeutig gilt, nichts mehr, worauf man sich verlassen kann, nichts mehr, das, wenn man es soundso tut, einen sicher sein lässt, sich richtig verhalten zu haben. Mit unzähligen Fragen, auf die keiner eine klare Antwort geben kann, ist man alleine gelassen:
Wann küsse ich das erst Mal? Welche Wange? Wenn beide Wangen, welche zuerst?
Was mache ich während der Kusssequenz mit den Händen? Fasse ich mein Gegenüber an und wenn ja, wo?
Wann umarmt der Mann den Mann das erste Mal oder möglicherweise gleich zum ersten Mal in welcher Situation? Wohin mit dem Kopf? An die Schläfe des anderen? Ein- oder Beidseitig? Und auch hier die Frage, wohin mit den Händen? 
Ich jedenfalls hab' keine Ahnung und die nächste begrüßungsrituelle Tretmine lauert schon auf mich.

Wenn ich mich allerdings so umgucke und andere bei ihren Begrüßungsriten beobachte, dann tröstet mich nicht selten was ich da sehe. Da werden so manche Begrüßungen im Ansatz versemmelt, wie eine Massenkarambolage bei einem Formel 1 Start. "Soll ich sie küssen?", "Will sie überhaupt von mir (schon) geküsst werden?", "Vielleicht drück' ich sie auch nur?" "... oder lass ich's ganz?" steht den auf den Touchdown zusteuernden förmlich ins Gesicht geschrieben. Das Ergebnis reicht dann von aufgesetzt wirkendem, affektiertem Gehampel bis hin zu peinlichen Kopfnüssen.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich halte mich zuletzt für prüde. Ich hab auch nichts gegen zwischenmenschlichen Kontakt im wörtlichen Sinne. Vor allem Küsse ich auch gern. Doch besonders Letzteres beschränkte ich doch am liebsten auf meine Frau.

Wo diese Entwicklung wohl noch hinführt? Welche Grenzen werden noch fallen? Welche Dämme werden da zukünftig noch brechen? Und wie lange bleibt die Zunge noch aus dem Spiel?

Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir es eben nicht mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben, die im schlimmsten Fall ihren Zenit noch nicht mal erreicht hat, sondern mit einer vorübergehenden Erscheinung an deren Ende es vielleicht das coolste ist, sich lässig die Hand zu drücken. Ich verdinge mich bis dahin als Trendsetter.

Christian Sünderwald

26.06.2016

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