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Verlassene Schule für Physiotherapeuten
Das Leben geht ganz schön auf die Knochen. Je länger es geht desto mehr. Die durchschnittliche Lebenserwartung unserer Spezies in der Steinzeit betrug nur etwas mehr als 30 Jahre. Heute beträgt sie in Deutschland knapp 90 Jahre, also dreimal so viel! So schnell wie die Lebenserwartung gerade in den letzten Jahrhunderten stieg, konnte sich unser Stützapparat evolutionär nicht anpassen. So wird unser Gebälk schon morsch, während wir noch in voller Blüte unseres Lebens stehen und voller Tatendang sind. Aber so wie wir Menschen uns die Lebensumstände schaffen konnten um so alt zu werden, so sind wir Menschen auch in der Lage, uns bei diesem Problem zu helfen. Die entsprechenden Helfer stellen inzwischen eine eigene und wachsende Berufsgruppe – die der Physiotherapeuten. Ihren Beruf an sich gibt es erstaunlicherweise erst seit 1994. Vorher war er unter dem Oberbegriff der Krankengymnastik subsummiert. So schlecht wie der Job bezahlt ist, so Krisen- und Zukunftssicher ist er angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land. Warum trotzdem diese Schule geschlossen wurde, wissen wir nicht. Wäre sie noch in Betrieb, hätten wir wohl ein paar interessante Fotomotive weniger, weshalb wir uns gern mit diesem Kenntnisdefizit abfinden und uns aufmachen, sie zu besuchen.
Die Anreise führt uns diesmal in Richtung Westen, in die immer noch großteils dünn besiedelten Landstriche entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Die Schule liegt in einem beschaulichen kleinen Kurort, dessen Straßenbild geprägt ist von der Kernzielgruppe derer, die hier einst ausgebildet wurden. Am Mangel an Probanden scheint es jedenfalls nicht gelegen zu haben, dass die Schule einst schließen musste. Wir fahren langsam durch den Ort. Auf einer Anhöhe am Ortsrand liegt die alte Schule mit ihrer eher sachlich und damit unscheinbar wirkenden Holzfassade, die nicht erahnen lässt, was sich uns gleich offenbaren sollte.
Wir parken den Wagen wie immer etwas abseits und gehen, die Tasche mit den Ablichtungsgerätschaften übergeworfen, die letzten Meter zu Fuß. Ein Seiteneingang steht einladend offen. Wir zögern keinen Moment erst mal aus dem Sichtfeld der bewohnten Nachbarschaft zu entschwinden und treten ein. Nach wenigen Schritten stehen wir in einem klassischen Schulungsraum. Tisch- und Stuhlreihen vor einer breiten Tafel und die üblichen ersten Vandalismus-Spuren. Bis dahin noch nichts besonderes. Doch hinter dem Schulungsraum ein großer zentralen Raum - eine Art Aula - in dem ein paar alte Rollstühle stehen und ein Flügel, der sogar noch recht wohlklingende Töne von sich gibt, obwohl die Tastenreihe aussieht wie eine alte DDR-Autobahn in den späten 80ern. Nach einer Weile dann die wirklich große Überraschung: Ein riesiger, fast etwas sakral wirkender Saal mit reicher Stuckverzierung, in dem vereinzelt Massagebänke herumstehen. Sagenhaft und etwas gruselig zugleich. Eine die Phantasie anregende Atmosphäre. In dieser Kulisse könnte gut einer der vielen Filme über skrupellose Organhändler gedreht werden, nach deren doch stets ähnlichem Strickmuster ja immer ein abgelegener unwirtlicher Ort vorkommt, an dem sie ihre Opfer ungestört ausweiden (übrigens eine meines Erachtens gelungene cineastische Verarbeitung des Themas ist der Film „Die Insel“).
Nach einigen Fotoaufnahmen und vielen intensiven Eindrücken ziehen wir uns schließlich langsam wieder zurück. Unweigerlich muss ich auf der Rückfahrt an meinen Physiotherapeuten denken und daran, wie elend es mir wohl ginge, hätte ich ihn nicht. Ein wirklicher Meister seines Fachs. Meine von der Natur nun wirklich nicht vorhersehbar gewesene krummbuckelige Haltung stundenlang vor dem Rechner hinterlässt ihre Spuren, auf deren Beseitigung ich wahrlich immer wieder angewiesen bin. Ach ja, morgen ist es übrigens wieder soweit; ich hab einen Termin bei ihm. Ich werde ihn mal fragen, ob er die Schule kennt, ist er doch schon lange im Geschäft. Vielleicht erfahre ich ja dann doch noch, warum sie geschlossen wurde.