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Verlassen Kirche in Sachsen-Anhalt - und frohe Weihnachten
Morgen ist Weihnachten. Showdown für den Einzelhandel. Finale der irrsinnlichen Vorweihnachtszeit. Die Besinnlichkeit des Advents wird auf dem Altar des Konsumrauschs geopfert. Wir entsagen uns dieser Opfergaben, wollen nicht dem Mammon huldigen. Wir gehen in die Kirche und zwar in eine, in der morgen kein Krippenspiel stattfinden wird, morgen kein Priester sinnbildlich den Kelch andächtig erheben wird und keine Ministranten die Gemeinde mit Weihrauch einnebeln und in der morgen auch keine Lieder gebrummt bis gesungen werden und auch kein einziges Gebet gesprochen wird. Wir besuchen eine verlassene (!) Kirche.
Auf unserer Hinfahrt stellen sich meine Frau und ich die Frage, ob eine Kirche wirklich in jeder Hinsicht oder besser in jedem Sinne ist, nur weil dort keine Gottesdienste mehr stattfinden. Vielleicht finden wir's ja gleich heraus.
Angekommen in der beschaulichen Kleinstadt, ist es nicht schwer, das immer noch stattliche spätgotische Bauwerk zu finden. Schnell schlagen wir uns in die inzwischen üppig wuchernden Büsche, von denen das weitläufige Gelände des ehemalige Gotteshaus inzwischen eingewachsen ist. Wollen wir doch unseren Besuch möglichst unbemerkt von neugierigen Blicken anderer abstatten.
Als wir durch den Eingang, den der damalige Baumeister allerdings ganz offensichtlich nicht für die Schar der Gläubigen vorgesehen hat, - sagen wir mal - durchschritten haben, sind wir augenblicklich gefangen von der sakralen Pracht, die sich hier besonders unmittelbar und direkt entfaltet in diesem vom Verfall entblößten Kirchenbau. Wir halten lange inne. Wir hören unseren eigenen etwas schweren Atem und scheinbar auch das rhythmische Pochen unseres Herzschlags. Es gibt wohl kaum einen Ort, der uns besinnlicher stimmen könnte. Jetzt ist Weihnachten!
Die Gedanken sind frei und unzählige Menschen haben über viele viele Jahre besonders hier diese Freiheit genutzt, sehnliche und vielleicht auch geheime, fürsorgliche oder ganz eigene, mehr oder auch weniger fromme Wünsche zu formulieren und um deren Erfüllung zu bitten. Der gebetene wurde in einer sehr wortähnlichen Form in Gedanken angesprochen - er wurde angebetet. Die Vorstellungen von "Ihm" waren und sind bei den Menschen sicher so unterschiedlich wie ihre gehegten Wünsche. Nur bei seinem Namen ist man sich einig - es geht um Gott.
Wir fragen uns, ob es Orte gibt, die eine ganz besondere Ausstrahlung und Wirkung haben, der man sich nicht entziehen kann und wenn ja, was die Orte dazu macht, was an Ihnen geschehen muss, um so "aufgeladen" zu sein? Weder meine Frau noch ich zählen zu den alles infrage stellenden Verschwörungstheoretikern, noch sind wir Anhänger der tischchenrückenden Jenseitsrufer oder Handflächen lesenden, Gestirnskonstellationen interpretierenden Esoterikern, die sich erst so richtig wohl fühlen, wenn man die von indischen Räucherstäbchen geschwängerte Luft kaum noch atmen kann. Und doch! Hier ist es anders als in den unzähligen verlassenen Gebäuden, die wir schon besucht haben. Hier ist eine nicht greifbare aber doch spürbare Präsenz. Vielleicht liegt es tatsächlich an den unzähligen Seelen, die hier in Gebeten angeschüttet wurden und in den alten Kirchenmauern all das eingesickert ist, was ersehnt, erfleht, erhofft oder auch beklagt und betrauert wurde.
Die einen sagen ja, dass Glaube all das ersetzt, was man nicht weiß oder wissen kann. Für die anderen ist Glaube kein Ersatz für fehlendes Wissen sondern ergänzt und bereichert das offensichtliche und greifbare – macht die Sicht darauf erst vollständig, erweitert den Horizont, gibt Orientierung und Halt.
Nachdem wir unsere Fotos gemacht haben, bleiben wir noch eine ganze Weile ohne ein Wort miteinander zu sprechen in dieser Kirche und lassen die angefüllte Spannung dieses Ortes auf uns wirken. Wir suchen gar nicht nach Antworten auf die vielen Fragen, die man nun aus der Ratio freilich stellen könnte. Wir glauben - es ist Weihnachten.